Identität und Resilienz

Ob auf individueller oder sozialer Ebene: Identitäten sind komplex und häufig durch die Interaktion verschiedener Systeme charakterisiert. Sie versuchen, dem Veränderungsdruck, der aus verschiedenen internen und externen Quellen kommt, einen Widerstand entgegenzusetzen. Identitäten müssen sich resilient verhalten, sonst sind es keine Identitäten mehr.

Da eine Identität prozesshaft und nicht starr ist, entsteht die schwierige Frage nach einem Identitätskern, der weitgehend unveränderlich ist. Andere Elemente der Identität ändern sich zwingend. Resilienz ist in diesem Zusammenhang wohl nicht sosehr Starrheit oder Elastizität gegenüber externen Einflüssen sondern eher die Bewahrung eines, in gewissen Grenzen selbst dynamischen, Identitätskerns.

Resilienz in einer Krisensituation bedeutet also in der Regel nicht, den vorherigen Zustand komplett nach der Krise wiederherzustellen. Sie sollte ermöglichen, aus Krisen zu lernen und den Prozess der Veränderung, vielleicht sogar Entwicklung der Identität sinnvoll zu begleiten. Das Immunsystem ist ein gutes Beispiel für ein sinnvoll agierendes Resilienz-System: Es lernt durch eine Infektion, eine vielleicht existenzbedrohende Krise, verändert sich, um durch eine gezielte Immunantwort das Basissystem, den Organismus zu erhalten.

In der Gesellschaft und der Wirtschaft beinhaltet Resilienz eine Vorausschau möglicher Entwicklungen oder auch Krisen. Identität gibt es nicht in monadenhaften Einheiten. Keine Person oder Organisation ist unabhängig von der Umgebung.

Identität und Resilienz lässt sich aus aktuellem Anlass sehr gut in Analogie zur Reaktion eines menschlichen Organismus auf die äußere Bedrohung eines Virus, der gefährlich wird, wenn er zu einer inneren Bedrohung wird, erklären. Der menschliche Organismus “weiß” um seine organische Identität und versucht sie, durch ein flexibles und intelligentes Immunsystem zu schützen. Organische Identität bedeutet, dass alle wichtigen Organe, Herz, Leber, Niere, Bewegungsapparat etc. funktionieren müssen. Mit Ausfall einer dieser Systeme kann der Organismus nicht weiter existieren. Die Definition der organischen Identität ist also sehr einfach, im Gegensatz zu einer psychischen oder Unternehmens-Identität.

Der Körper reagiert auf bakterielle und Viren-Bedrohungen mit einem Immunsystem, das die Bakterien/Viren ganz oder teilweise unschädlich macht. Dabei verändert sich das Immunsystem, also die Biologie des menschlichen Körpers selbst. Das System “merkt” sich die Bedrohung und kann bei ähnlichen Angriffen richtig reagieren. Diese Merkfunktion kann man durch vorbeugende Impfungen stimulieren, so dass ein realer Angriff zum Aufbau der Abwehr nicht nötig ist.

In der Psyche und in Unternehmensstrukturen sind diese „Immunreaktionen“, je nach Disposition, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Man kann das Immunsystem genau wie mit einer Impfung trainieren, indem man die Bedrohungsszenerie vorher durchspielt. Der jeweilige Organismus ist dann nachweislich stärker in der Abwehr der Bedrohungen. In der Psychotherapie versucht man dies etwa mit dem Psychodrama oder verschiedenen Desensibilisierungsmethoden. In der Wirtschaft gibt es etwa den Banken-Crashtest. Immunisierung oder besser: Schaffung von Resilienzstrukturen und –reaktionen im Unternehmensbereich. Das Durchspielen möglichst wahrscheinlicher Bedrohungsszenarien ist eine Art Impfung, die die Bedrohungssituation simuliert. Dies wird teilweise im Risikomanagement versucht. Die Frage ist, wie viele dieser Situationen muss man durchspielen, wenn man gegen alle wichtigen Bedrohungen immun sein will? Allerdings hat sich gerade in der jüngsten Zeit gezeigt, dass man dies nur unzureichend getan hat. Die deutsche Auto-Industrie hat die Bedrohung durch ein alternatives Antriebssystem offenbar nicht wirklich durchgespielt. Sie hat auf das Virus Elektro-Antrieb erst reagiert, als dies den Organismus bereits tatsächlich bedroht hat. Ob die “Immunantwort” passend war und den Organismus erhalten kann, ist noch nicht sicher. 

Die „Immunantwort“ wird nicht selten einen radikalen Wandel der Unternehmenskultur einschließen. Die Leute mit „Benzin im Blut“ haben offenbar immer noch viel zu sagen. Sie merken größtenteils nicht, was da passiert. Was Elon Musk gebaut hat, ist kein Auto mehr im klassischen Sinne, es ist ein Computer mit Rädern. Die Fahrmechanik, auf die die klassische Autoindustrie so stolz ist, ist hier eine „nice addon“. Das gleiche ist Nokia passiert, als man glaubte, auf dem Gebiet des Mobilfunk unschlagbar zu sein. Ein Smartphone ist aber heute kein Telefon mehr, sondern ein Computer, der nebenbei auch telefonieren kann. Dafür wird es inzwischen auch nur noch selten verwendet.

Es gibt viele Resilienz-Konzepte. Die eher statischen gehen davon aus, einen feststehenden Grundbestand der eigenen Identität bewahren zu müssen. Die dynamischen legen Wert darauf, dass es einen solchen Grundbestand nicht gibt und dass Resilienz in genereller Veränderungsfähigkeit besteht. Beides hat Parallelen in der organischen Welt. Die organische Identität des Menschen ist eher statisch, die Zahl der Organe und ihr Zusammenwirken wird im Wesentlichen gleich bleiben. Die Identität des Virus hingegen ist dynamisch, er erfindet sich in Mutationen ständig neu und passt sich den Eigenarten seines Wirtsorganismus flexibel an.

Für welchen Typus von Resilienz sich ein Unternehmen entscheidet, hängt vom Geschäftsfeld, der Mentalität der Unternehmensleitung und sicherlich auch von äußeren Zwängen wie das Wettbewerbsumfeld, das soziale Engagement etc. ab. Wichtig ist, sich den jeweiligen Status und die entsprechenden Prozesse bewusst zu machen um sie dann strategisch einsetzen zu können.

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