Unerwartete Veränderungen sind das neue „Normal“
Wir haben eine Kaskade unerwarteter Ereignisse hinter uns, die unser Leben wahrscheinlich für immer verändern wird: Krieg, Corona, Klimaveränderung, Digitalisierung. Geradezu endemisch verbreitet ist inzwischen die Hoffnung auf eine Rückkehr zum „normalen Leben“, was auch immer damit gemeint ist. Der Begriff „normal“ ist fragwürdig geworden. Oft beinhaltet er eine Mischung aus Erinnerungen an ein vergangenes Leben und die Projektion von Wünschen in die Zukunft. Aber selbst wenn wir zu den früheren Tätigkeiten und Abläufen zurückkehren, was nicht sehr wahrscheinlich ist, wird sich das Koordinatensystem, innerhalb dessen alles geschieht und innerhalb dessen wir das betrachten für immer verändert haben. Warum ist das so? Weil es immer so war. In den letzten zweihundert Jahren hat in Mitteleuropa fast jede Generation ein völlig anderes Leben geführt als die vorherige. Und kaum jemand konnte voraussagen, welcher Art diese Veränderungen sein würden. Wenn etwas normal geworden ist, dann ist es dies. Weltgeschichtlich könnten wir dieses Zeitalter vielleicht als das ‚Ende der Allmählichkeit‘ beschreiben.
Ein Zeichen dieser Veränderungen ist, dass sie zunächst in Gestalt von etwas Bekanntem, das es schon immer gab, auftreten. Fast alle Funktionen die Facebook anfangs zu bieten hatte, gab es schon lange in den AOL-Communities oder bei MySpace, Frienster etc. Zoom und Homeoffice waren gleichfalls nicht neu. Dieses Bekannte erhält aber auf einmal einen neuen Stellenwert, wird zum neuen Normal.
Dies trifft auch Verhältnisse, die wir für „feststehend“ gehalten hatten. Wer hätte geglaubt, dass Thomas de Maizières Thesen zur deutschen Leitkultur von 2017 so schnell obsolet werden könnten? „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.“, „Wir zeigen unser Gesicht.“ Man möchte hinzufügen: „Wir sind nicht Atemschutzmaske.“ Ist damit ein Teil der deutschen Leitkultur den Bach hinunter gegangen? Offenbar ja. Eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten ist auch hier ist nicht in Sicht, selbst wenn die Atemschutzmaske nicht mehr überall Pflicht ist.
Es wird immer deutlicher, dass die Folgen dessen was wir tun, nicht genau vorhersehbar und in einigen Fällen sogar völlig unseren Intentionen entgegengesetzt sind. Kein Autofahrer möchte bewusst das Klima schädigen, niemand, der eine Feier veranstaltet, möchte, dass seine Gäste erkranken und vielleicht sogar sterben. Gerade in Zeiten, in denen sich Lebensumstände radikal verändern, werden die Kontext-Faktoren und damit die Voraussagbarkeit von Handlungen immer schwieriger. Dies steht in eigenartigem Kontrast zur Entwicklung der technologischen Planbarkeit. Man kann heute ohne Schwierigkeiten Werke konzipieren, die komplexe technische Geräte produzieren und sie funktionieren von Anfang an wie geplant. Das funktioniert, weil man sich in einer überschaubaren Zahl von Systemen bewegt. Aber auch diese (Re-)Produzierbarkeit hat, wenn man den technologischen Rahmen verlässt, zahlreiche Konsequenzen, die nicht beabsichtigt waren. In einer sich wirtschaftlich selbst regulierenden Welt sitzen wir oft wie in einem Schnellboot, das mit Höchstgeschwindigkeit fährt, in dem niemand das Steuer in der Hand hat. Wo wir da ankommen, merken wir erst später. Und ob dann noch eine Kurskorrektur möglich ist, steht in den Sternen.
Faszination Zukunft
Die Zukunft hat eine bleibende Faszination in der Menschheitsgeschichte, ihre Voraussagbarkeit ist ein Projekt, in das ein großer Teil menschlicher Aktivität geflossen ist. Doch nur ein kleiner Teil der Prognosen hat sich als zutreffend erwiesen. Woran liegt das? Kurz gesagt, daran, dass alle Versuche einer Prognose einen eingeschränkten Gesichtskreis haben. Wir prognostizieren innerhalb eines Systems oder einiger weniger Systeme, von denen wir glauben, dass sie zusammenhängen.
Wozu Voraussagen, wenn sie sowieso nicht stimmen?
Angesichts der zahlreichen Unwägbarkeiten stellt sich die Frage, was jetzt Voraussagen eigentlich noch wert sind. Über den Wert von Voraussagen gibt es zwei extreme Positionen, zum einen die deterministisch/fatalistische, die meint, man könne zuverlässige Voraussagen treffen, wenn man nur alle Bedingungen kennt und in die Kalkulation einbezieht. Die Kenntnis aller Bedingungen ist aber praktisch nicht möglich. Zum anderen gibt es eben die Skeptiker, die die Möglichkeit einigermaßen zuverlässiger Voraussagen für unmöglich halten, weil es etwa keine zwingende Ursache-Wirkung-Relation gibt. Beide Seiten sind sich weitgehend darin einig, dass eine sichere Voraussage praktisch nicht möglich ist. Welchen Sinn hat es, eine Voraussage zu treffen, von der ich weiß, dass sie nicht eintreffen wird oder von der ich weiß, dass sie nur das beschreibt, was unabänderlich kommen wird? Wenn nichts so schnell veraltet wie die Zukunft, warum sich mit dieser überhaupt beschäftigen?
In der uns zugänglichen Geschichte der Menschheit hat man die Notwendigkeit der Zukunftsschau als Voraussage oder Utopie immer wieder gefühlt, ohne sie wirklich begründen zu können. Nahezu jedes philosophische System und jede politische Theorie oder Religion hat sich in dieser oder jener Weise darin versucht. Offenbar liegt das an dem Dilemma, dass ich nur über die Vergangenheit zuverlässiges Wissen habe, aber mein Handeln immer in die Zukunft gerichtet ist. Man unterstellt also, eine schlechte Voraussage sei besser als gar keine. Darüber hinaus versuchen wir unsere Handlung durch die Erwartungen bestimmter Folgen zu legitimieren. Voraussagen haben also eine wichtige kommunikative, normative, in einigen Fällen auch manipulative Funktion. Sehr beliebt sind hier auch konditionale Prognosen wie: „Wenn sich die Erderwärmung verlangsamen soll, müssen wir den CO2-Ausstoß verringern.“ Die gesteigerte Form der zuverlässigen Voraussage als selbsterfüllende Prophezeiung. Zukünftige Dinge passieren, weil wir es so vorausgesagt haben.
Marketing als selbsterfüllende Prophezeiung
Im Erfolgsfalle sind auch Marketing-Botschaften selbsterfüllende Prophezeiungen. Der Kunde internalisiert das beabsichtigte Image des Produkts und Unternehmens oder konsumiert nach Ausspielung von Werbung. Das bedeutet, die Werbung kreiert zukünftige Verhältnisse bis zu einem gewissen Grad. Dies ist jedoch nur eine Wirkungsweise von Marketing. Insgesamt greift Marketing in die kulturellen und normativen Werte einer Gesellschaft ein und verändert diese auch in einer Weise, die man nicht vorhergesehen hat. Die Lifestyle-Botschaften von Apple beispielsweise greifen in die Identitätsbestimmung von Individuen und Gruppen ein. Für viele Apple-Anhänger sind die Botschaften des Konzerns inzwischen ein wichtiges Element des Selbstbildes. Sie wollen sich von anderen unterscheiden, indem sie Apple-Produkte benutzen.
Die unsichtbaren Hände der Philosophen
Die Tatsache, dass wir Zwecke verwirklichen, die uns nicht bewusst sind, wurde von den Denkern verschiedener Perioden unterschiedlich diskutiert. Adam Smith sprach von der „invisible hand“, die, obwohl das Individuum gezielt seine eigenen Zwecke verwirklicht, gemeinschaftliche Zwecke realisiert. Für Kant gibt es eine „Naturabsicht“, die produktive Zwietracht zwischen eigentlich Harmonie anstrebenden Menschen sät. Hegel sprach in ähnlichem Kontext von der „List der Vernunft“: der Mensch wird unwissentlich, indem er seine eigenen Ziele verfolgt, zum Instrument der Entfaltung des Weltgeistes. Alle drei Denker sind sich sicher, dass sich durch diese unbeabsichtigten Sekundäreffekte Fortschritt realisiert. Marx ist derjenige, der diesen nicht intendierten Folgen unserer Handlungen auch negative, destruktive Funktionen attestiert: „Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt… “ (MEW 21, 297) Der Arbeiter in der Industrie, schafft selbst die Verhältnisse, die ihn unterdrücken. Entfremdungsprozesse, sind für Marx in der Regel nicht intendierte Prozesse. Die soziale Entwicklung ist offen, sie kann zum eigentlichen Menschheitsfortschritt, zur Befreiung des Menschen werden oder zu dessen Gegenteil. Für Marx besteht die Chance auf einen humanistischen Fortschritt darin, dass die Menschen sich der nicht intendierten Effekte bewusst werden und sie versuchen, zielgerichtet durch eine andere Sozial- und Eigentumsstruktur zu überwinden. Auch das ist, wie sich herausgestellt hat, nicht ganz so einfach.
Soziologisch präziser werden unbeabsichtigte Konsequenzen zielgerichteten menschlichen Handelns von Robert K. Merton in seinem gleichnamigen Artikel (The unanticipated Consequences of purposive social Action, American Sociological Review, Vol. 1, No. 6, Washington 1936) untersucht. Für Merton ist der hauptsächliche limitierende Faktor für die Voraussagbarkeit von Konsequenzen der jeweilige individuelle Wissensstand (S. 898). Der limitierte Wissensstand kann etwa zur Folge haben, dass wir glauben, wenn eine Handlung erfolgreich war, dies für gleichartige Handlungen in der Zukunft fortschreiben zu können. Weitere Faktoren sind Irrtum über die Konsequenzen des Handelns, die jeweilige unmittelbare Interessenlage, etwa das Interesse an größtmöglichen Profit und die generellen sozialen Werte. Ein wichtiger Punkt den Merton betont ist, dass wir durch das funktionale Nichtbeachten aller möglichen Konsequenzen überhaupt erst handlungsfähig werden. Eine Multidetermination aller Aktionen und Ereignisse vorausgesetzt, gibt es tatsächlich keine Möglichkeit, in Kenntnis aller möglichen Bedingugnen und Folgen zu handeln.
Voraussagen im Unternehmensbereich
Im Unternehmensbereich, etwa im Marketing hat man die Tatsache, dass es immer unbeabsichtigte Konsequenzen gibt, bereits internalisiert. Jede Marketing-Maßnahme wird im Vorfeld darauf untersucht, ob sie nicht missverstanden werden oder das Gegenteil bewirken kann. Hier konzentriert man sich auf einige mögliche Folgen innerhalb der Kommunikationssphäre. Doch auch dies kann natürlich fehlgehen und ist schon sehr oft fehlgegangen.
In anderen Bereichen ist die Kalkulation möglicher nicht intendierter Folgen weniger ausgeprägt. Wenn es um unerwartete soziale, psychologische, ökologische, logische oder auch gnoseologische Dimensionen geht, kann Corporate Philosophy dafür ein Bewusstsein schaffen, indem sie Faktoren einbezieht, die normalerweise nicht zum Themenkreis der betriebswirtschaftlichen Kalkulation gehören. Ein wichtiges Element hierbei ist die Bestimmung der Identität einer Gruppe von Menschen oder eines Unternehmens. Erst wenn ich weiß, wer ich bin und was ich will, kann ich überhaupt beurteilen, welche Effekte intendiert oder nicht intendiert sind.
Fazit: Wir stecken in einem unlösbaren Dilemma: Zuverlässige Voraussagen sind unmöglich, wir müssen sie dennoch zwingend treffen, um eine Handlungsnormative zu haben. Jedes Unternehmen, dessen Dienste, Produkte, interne Struktur, Mitarbeiter den gleichen Veränderungen unterliegen wie die gesamte Gesellschaft, sollte dringend Ressourcen für eine prädiktive Analyse aufbauen. Regelmäßige Voraussagen und Bezug auf verschiedene Faktoren des Geschäftsbetriebes innerhalb der Geschäftstätigkeit gehört zu wichtigen Elementen der Resilienz. Robert K. Merton bezeichnet dies als „unökonomisches Verhalten“ (uneconomic behavior). Welche Felder man dazu abdeckt, Produktvoraussagen, politische oder volkswirtschaftliche Voraussagen oder solche zur Entwicklung der Kultur und der Werte der Zielgruppe, ist abhängig von den Ressourcen und bis zu einem gewissen Maße auch von dem Wagemut des Unternehmens.
Robert K. Merton (Consequences S. 900) über die “Aktivisten” und Prognosegegner: “In our present economic order, it is manifestly uneconomic behavior to concern ourselves with attempts to obtain knowledge for predicting the outcomes of action to such an extent that we have practically no time or energy for other pursuits. An economy of social engineers is no more conceivable or practicable than an economy of laundrymen. It is the fault of the extreme antinoetic activists who promote the idea of action above all else to exaggerate this limit and to claim (in effect) that virtually no time or energy be devoted to the acquisition of knowledge.”
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