Kriterien der Identität

Wenn wir versuchen herauszufinden, nach welchen Gesichtspunkten wir Identität feststellen können, gelangen wir in einen schier endlosen Irrgarten: Es gibt unzählige soziale und persönliche Kriterien, die Identität einer Person, eines Gegenstandes oder einer Gruppierung festzustellen: Fingerabdruck, Name zusammen mit  Geburtsdatum und Geburtsort, Steuernummer, familiäre oder soziale Rolle, Aussehen, sexuelle Orientierung, Selbstbild, Nationalität, Religionszugehörigkeit und vieles mehr. Noch schwieriger wird es, wenn es um die Identität von Gruppen, Organisationen und Unternehmen geht. Man versucht, die persönliche Identität, zu der wir einen traditionell sehr ausgeprägten Zugang haben, auf kollektive Einheiten zu projizieren.

Identität und Zugehörigkeit

Ein wichtiges Element der Identität ist die Zugehörigkeit. Ich gehöre einer Kultur zu, einem Unternehmen, einer Familie. In jüngerer Zeit wird auch die Zugehörigkeit durch Marken immer wichtiger. Ich bin Apple-User, Mercedes-Fahrer, Nestlé-Verweigerer, Studiosus-Urlauber. Ernährungs-Präferenzen als Identität werden immer wichtiger: Veganer und Vegetarier in allen ihren Facetten betrachten ihre Neigung in der Regel als Statement über ihre Person. Im Unternehmens- und Wirtschaftskontext ist die Frage nach der Identität auch eine Frage der Zuständigkeit. Als Geschäftsführer bin ich privilegiert, über ein Unternehmen, über Mitarbeiter zu entscheiden. Als Reinigungspersonal bin ich für die Sauberkeit verantwortlich. Identität ist steuerrelevant: Als Freiberufler werde ich steuerlich anders behandelt als als Mitarbeiter eines Unternehmens.

Wer bin ich also? Die Beantwortung dieser Frage hat viele Konsequenzen. Meine Umwelt reagiert auf die Rollenzuschreibung, gelegentlich durch Verdacht oder aber durch Wissen.  Ein Pförtner in einem Krankenhaus, der einen Rhetorik-Kurs an der Volkshochschule besucht hatte, wurde häufig für einen Chefarzt gehalten. Erst nachdem er die Besucher aufgeklärt hatte, erhielt er die tatsächliche Rolle als Pförtner und nicht die ihm zugeschriebene als Chefarzt.

Identität und Selbstbild

Gibt es ein inneres Einverständnis mit der beruflichen Identität? Möchte ich gerade die Rolle ausfüllen, die ich spiele? Möchte der Pförtner lieber Chefarzt sein? Warum hat er den Rhetorikkurs besucht? Dies ist eine schwierige und facettenreiche Frage, die man in der Geschichte verschieden beantwortet hat. In Indien wurden die wichtigsten Identitätsfragen durch eine Kastenzugehörigkeit geklärt. Die Identität war unentrinnbar, da sich die Kastenzugehörigkeit durch die Geburt bestimmt. In der westlichen Welt wird die Identität in gewissen Grenzen selbst gewählt, durch Identifikation mit prominenten Personen, durch Wünsche an die Berufszugehörigkeit und durch Konsumverhalten. Eine gefestigte Identität, die durch inneres Einverständnis mit meiner Rolle entsteht, verstärkt sich die Fähigkeit zur Resilienz, zur Bewahrung dieser Identität, wenn sie infrage gestellt wird.

Darüber hinaus: Gibt es eine kollektive Identität? Worin besteht diese? Man redet häufig von einer „Unternehmensperson“. Das gesamte Unternehmen wird in Analogie zu einer Person gedacht, ihm werden persönliche Eigenschaften zugeschrieben. Ob ein solches Verfahren sinnvoll ist, bleibt dahingestellt. 

Vorläfuiges Fazit zum Gebrauch des Begriffes Identität: Wenn immmer man von Identität redet, sollte man hinzufügen, welche Art von Identität man meint: poitische, religiöse, ethnische, sprachliche, sexuelle, korporative oder irgend eine andere. Es gibt auch zusammengesetzte, komposite Identitätstypen, vielleicht: Vegetarier, Umweltschützer, Grünen-Wähler, Impfverweigerer. Häufig wird eine Zusammenstellung auch als eine Identität empfunden, die sich jedoch in ihre Bestandteile analysieren lässt.

Wozu Identität?

Worin liegt nun der Sinn, Identitäten zu untersuchen? Die Antwort ist relativ einfach: Wer seine Identität kennt und lebt, mit ihr einverstanden ist, entwickelt eine größere Autonomie und damit eine stabilere Resilienz gegenüber äußeren Faktoren. Er kann aus dieser Kenntnis oder diesem Gefühl des Einssein mit sich selbst besser beurteilen, auf welche äußeren Anforderungen er reagieren muss und auf welche nicht. Er wird, da er weiß, wer er ist und was er will, nicht auf jede äußere Veränderung reagieren. Dies gilt auch für Unternehmen. Wenn die Unternehmensidentität geklärt ist, sie hängt in vieler Hinsicht mit der “Unternehmensperson” zusammen, kann das Unternehmen auf Herausforderungen differenzierter und bestimmter reagieren.

Es ist eine strategische Frage, ob man eine Unternehmensperson kreieren oder das Unternehmen als eine bewusste Wertegemeinschaft gestalten möchte. Apple als Unternehmensperson wird häufig und sogar posthum mit Steve Jobs identifiziert.