Agile Ontologien: Schöne neue Welten

Ontologie ist die Lehre vom Sein. Während es in der Philosophie darum geht, die einzige Lehre vom wahren Sein zu konstruieren, haben Informatiker keine Probleme damit, von Ontologien zu reden. Je nach Anlass wird geradezu aus dem Ärmel eine neue Ontologie konstruiert. Da eine Ontologie das Sein selbst nur mittelbar betrifft und vor allem auf unsere Begriffswelt über etwas Seiendes rekurriert, ist das auch völlig unkompliziert. Man darf sich aus dem so genannten Sein sogar etwas aussuchen, eine Welt von Produkten oder Orten, Zeiten und Personen. Aus der Perspektive eines Ökonomen ist ein Sein, das aus Waren, Preisen, Käufen und Transaktionen besteht, eine besonders schöne, wenngleich auch nicht mehr ganz neue Welt.

Ontologien sind Projektionen

Ontologien sind Vorstellungen von einem wie auch immer existierenden Sein. Wir entwerfen sie als Projektionen, weil wir keinerlei direkten Zugang zu irgend einem „wirklichen Sein“ haben. Die schwierige Frage ist die nach den Entwurfskriterien oder Brechungswinkeln der Projektionen. Sie ist historisch sehr unterschiedlich beantwortet worden: sinnliche Gewissheit, evidente Gewissheit, Gewissheit des eigenen Denkens, praktische, menscheitsgeschichtliche oder pragmatische Gewissheit und viele mehr. Mit Sicherheit kann man sagen, dass zahlreiche Elemente in diese Projektionen einfließen wie persönliche Perspektive, der Zeitgeist, die Position, die der Projizierende in der Gesellschaft einnimmt, seine Absichten, vielleicht sogar das geografische Milieu, die Sprache und die traditionelle Begriffswelt. Das projizierte Sein in der Informatik ist extrem pragmatisch. Nur Dinge die unmittelbar gebraucht werden, gehen in die Ontologie ein. Dies befindet sich im starken Gegensatz zur traditionellen Philosophie, wo eher ‚unbrauchbare Dinge’ dem Sein zugehören.

Agile Ontologien müssen kommunizierbar sein

Google, Microsoft und Yahoo haben eine „Webwelt“ geschaffen, die aus Orten, Events, Personen und kreativen Werken besteht. Eigentlich spricht nichts dagegen, dass sich jeder seine eigene Ontologie schafft, vielleicht sogar jeden Tag eine andere, außer Einem: Ontologien haben nur Sinn, wenn sie verstanden, akzeptiert und kommuniziert werden. Ontologien sind intendiert als Verständigungsbasen, als gemeinsame Referenzen auf eine Welt, die man sich als objektiv vorstellt, in der Philosophie und in der Informatik. Wenn also die Konstruktion von Ontologien agil ist, muss es die Akzeptanz auch sein. Die verbundenen Systeme müssen nicht nur die Ontologie sondern auch deren Veränderungen verstehen können. In der elektronischen Welt ist das bis zu einem gewissen Grad beherrschbar, wenn man Veränderungsregeln festlegt. Probleme tauchen erst auf, wenn selbst diese Regeln agil werden. Im Alltagsleben ist dies etwas komplexer. Bedeutungen können sich hier sehr schnell ändern, etwa im Verlaufe einer Pressekampagne oder einem politischen Machtwechsel. Aber die Regeln der Veränderung sind verdeckt, unscharf, wenn sie überhaupt funktionieren.

Die beste aller möglichen Welten

Auf beiden Gebieten hat man das Gefühl bekommen, dass Ausdrücke leer sind, wenn sie sich nicht auf ein akzeptiertes Seiendes beziehen. Ontologie will der Sprache eine Bedeutung geben, welche auch immer. Die Aufklärer hatten damit begonnen, von „mehr als einer Welt“, von „möglichen Welten“ zu sprechen. Sie glaubten, dass diese eine Welt zu wenig ist. Leibniz hat dies insoweit eingeschränkt, dass er glaubte, dass diese Welt „die beste aller möglichen Welten“ ist. Dies bedeutet immer noch: sie ist gleichfalls nur eine mögliche Welt. Für heutige Verhältnisse gebraucht er hier eine recht naive Objektsprache, die Vorstellung und ihren Gegenstand in eine feste Relation setzen. Kant hat das den Philosophen dann ausgetrieben.

Agile Ontologien sind lebhafte Ontologien

Agile Ontologien sind lebhafte Ontologien. Für Unternehmen, deren Lebenswelt sich beständig ändert, müssen sie neu geschaffen werden. Abgesehen von dem Problem Veränderung-Akzeptanz haben „Lebhafte Ontologien“ hat aber auch einen anderen Aspekt: Die semantischen Systeme, die Systeme also, die uns sagen, wie sich ein Zeichen, Ausdruck, Begriff, auf die Wirklichkeit bezieht, entsprechen in der EDV grob gesagt der Frege-Semantik. Sie gehen von einer Entsprechung von Ausdruck, Sinn und manchmal auch Bedeutung aus. In der Sprachwissenschaft hat sich dieses Verfahren, vor allem bei der Untersuchung der Alltagssprache als unzulänglich erwiesen. Ein Ausspruch bedeutet immer mehr als er direkt sagt. Der Sprecher äußert mit dem Satz eine Intention, die dem Ausdruck eine besondere Färbung oder Richtung verleiht. Das klassische Beispiel hierfür: „Can you pass me the salt?“ fragt nicht nach einer Fähigkeit, sondern ist eine Bitte. Nun ist in keiner der EDV-Semantiken eine solche Intentionalität vorgegeben. Sie ist nicht erfassbar und nicht darstellbar. Naturgemäß entsteht an dieser Stelle die Frage: brauchen wir das? Innerhalb eines Unternehmens kann man mit Produkten, Eigenschaften, Transaktionen etc. alle Prozesse vollständig und semantisch eindeutig abbilden.

Wie in der natürlichen Sprache hat man auch in der Informatik das Problem, dass alltägliche, lebende Ontologien unscharf und von Person zu Person variant sind.  Hinzu kommt noch, dass der Sprachgebrauch häufig indirekt und rituell ist. Will man, beispielsweise bei Suchfunktionen, darauf rekurrieren, müsste man herausfinden, was der Sucher „meint“. Wie der Sprecher im Alltag häufig etwas anderes meint als er sagt, sucht der User nicht selten etwas anders als er eigentlich finden will. Seine Intention erschließt sich eher aus dem Kontext und dem Sprachgebrauch als aus der direkten Bedeutung der Worte.

Heideggers (agile) Fundamentalontologie

Eine der philosophischen Grundlagen für agile Ontologien kann man in Martin Heideggers Werk finden. Das Seiende erschließt sich zunächst als Sein aus dem Dasein des Menschen, dem jeweiligen Verständnishorizont und seiner Zeitdimension. Wenn man das Seiende als hinter dem Sein stehende einmal vernachlässigt, also keine „Fundamentalontologien“ konstruieren will, kann man das Sein durchaus als agil, mit der menschlichen Perspektive wechselnd verstehen. Persönliche Ontologien wechseln wohl recht häufig: Variierend nach Tageszeit, Stimmung und Ort erscheint uns die Welt je eine andere zu sein. Die Frage, die sich hieraus ergibt ist: Kann ich das kommunizieren? Dies wäre nur eine Ontologie, wenn sie von anderen geteilt werden kann. Schon eine oberflächliche Betrachtung der menschlichen Kommunikation zeigt, dass es dafür bereits Paradigmata oder Versatzstücke gibt. Die besondere Stimmung eines Ortes oder einer Zeit, ja sogar einer von Launen geleiteten Perspektive ist prinzipiell kommunizierbar. Mehr noch: Sie ruft im Kommunikationspartner häufig ein ähnliches Bild des Seins hervor. Das heißt, sie vermittelt bis zu einem gewissen Grad auch die Regeln ihrer Konstruktion. Der Zuhörer kann nur verstehen, wenn er rekonstruieren kann, was der Sprecher meint. Ob hier oder anderswo ein Bild vom Sein vollständig kommuniziert werden kann, ist eine andere Frage.

Ewiges Sein – Refugium der Philosophie?

Die Erörterung der agilen Ontologien provoziert die Frage, ob sich die Philosophie mit ihrer Suche nach dem „ewigen Sein“, nach Invarianten des menschlichen Daseins, nicht gründlich verrannt hat. Sie scheint sich einen exklusiven Raum geschaffen zu haben, in dem man die Illusion dieses unveränderlichen, einzig wahren Seins ungehindert kultivieren darf. Diese Illusion hat sie als elitäre, nicht bezweifelbare Botschaft kommuniziert und dadurch selbst ihre Identität erhalten. Doch woraus kann sie dann ihre Identität schöpfen? Vielleicht aus dem nun noch möglichen Paradoxon: das einzig Unveränderliche, was man annehmen darf, ist die prinzipielle Veränderlichkeit. Ontologien müssen dann leben können und vielleicht ihrer Natur nach agil, lebhaft sein.

Links: Gute Erklärung zur Relation von Ontologien in Philosophie und Informatik von Harald Sack mit einer sehr guten Idee (Platon ist der Vater der objektorientierten Programmierung) und einem gravierenden Fehler (die Ideen würden nach Platon nur in unserer Vorstellung existieren): http://www.yovisto.com/video/15202

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